Stein's Diary

—ELEANOR HEARTNEY

 
Stein's Diary

english and french translations

Von Eric Satie sagte man, er sei seht jung in eine Welt hineingeboren worden, die schon sehr alt war. Die traeumerische Zartheit und abstrakte Reinheit Satie’scher Klaenge spukt in den Gemaelde von Michel Alexis und auch der Maler selbst erweist sich als eine Figur, die mit ihrem Zeitalter keine rechte Uebereinstimmung finden kann.

Wir sollten uns auf eine Zeitreise begeben zurueck in die weniger hektische Zeit des fruehen 20. Jahrhunderts in Paris. Lassen wir uns in eine Welt ausgefeilter Manieren und kaprizioeser Erscheinungen ziehen, hin zu dem kultivierten « ennui » von Gestalten wie Satie, Debussy, Ravel und jenen Auserwaehlten, die sich um Gertrude Stein scharen durften. Hier finden wir die musikalischen und literarischen Anregungen fuer Alexis’Arbeiten.

Aufgewachsen in Paris und zunaechst auf musikalischem Gebiet ausgebildet, wandte sich Alexis vor 15 Jahren der Malerei zu. Seither hat er seine Kunst der fast unmerklichen Nuancen und der verhaltenen Ironie verfeinert. Er beschraenkt seine Palette zum grossen Teil auf Schattierungen von verblichenem Gruen, Grau, Braun und Blau, die an bruechige Seide erinnern. Von Zeit zu Zeit durchbricht ein strahlendes Blau den Schleier diskreter Farben : die eiskalte Hand der Wirklichkeit reisst den Vorhang aus Erinnerungen hinweg. Mit Spachtelspuren und gelegentlichen ziellosen Verletzungen scheint die Zeit selbst ihre Markierungen in den harten Gipsgrund der Gemaelde eingepraegt zu haben. 

Durch die Schichtung von Symbolen wird eine eigenartige Distanz, ein Geheimnis erzeugt. Das Spiel mit Formen und Texfragmenten, vorgetragen in nahezu identischen Farbtoenen, bleibt dem ersten Blick verhuellt und verborgen.

Ebenso zurueckhaltend melancholisch zeigt sich die gesamte Bilderwelt. In vielen Arbeiten fliessen Arabesken in rechteckige Formen oder entfalten sich ueber Flaechen mit unentzifferbaren Texten. Mit derlei Motiven spuert Alexis jenen reichverzierten Stuckdecken und dekorativen Wandfriesen seiner Kindheit nach, die er gleichermassen unbewusst wie gebannt zu betrachten pflegte. Die Schnoerkel offenbaren sich ihm als erstarrte Energie und gleichzeitig als Symbole von Ueberdruss und Eintoenigkeit innerhalb einer achtbaren buergerlichen Existenz.

Auf einer seiner Tafeln residieren zwei Thron Sessel Seite an Seite ; ihre kunstvoll gewundenen Lehnen representieren eine Lebensart, die lange entschwunden ist. Andere Arbeiten schmuecken sich mit Puttenkoepfchen aus Gips oder zierlichen Formen mit aehnlicher Bedeutung. In der Arbeit mit dem Titel « Cherubini » erstreckt sich ein lichtblaues Rechteck ueber ein Feld von stumpfen Braun, dessen Risse und Schnitte an eine broeckelige Stuckwand erinnern. Der runde Gipsabguss eines schlichten Ornamentes ziert die untere Haelfte des blauen Einschubes ; in der oberen lesen wir das Wort « Cherubini » in weissen Lettern. Ohne irgendwelche spezifischen Momente aufzuweisen, beschwoert diese Arbeit die Idee der Renaissance- Malerei : himmlisches Blau, ein Chor von Engeln, kuehne architektonische Loesungen.

Ein anderes, immer wieder auftauchendes Motiv ist die kleine Silhouette oder Reproduktion eines Kindes in spaetviktorianischer Kleidung. Waehrend jedoch dieses Symbol offensichtlich in fernere Zeiten und vermag sie nicht wieder herzustellen. Seine eigene Kindheitserinnerung reiche nicht weiter als bis zu einem Alter von 12 Jahren zurueck. In diesem Sinne zeigen sich jene Anklaenge in seiner Arbeit, die sich auf kindliche Unschuld und Reinheit beziehen eher archetypisch als persoenlich und mehr aus erfinderischer Anstrengung als aus einfacher Erinnerung geboren.

Vor kurzen hat Alexis behonnen zu Schriften von Gertrude Stein zu zeichnen, sie als Inspiration zu verwenden. Mit Schablonen bringt er Auszuege aus ihren Texten dergestalt auf die Leinwand auf, dass sie nur mit Muehe durch Farbschichten hindurch lesbar werden. Damit trachtet er Steins Bemuehungen, eine “kubistishe” Sprache zu schaffen, bildlich zu entsprechen. Die “kubistische” Sprache bedient sich einer Fragmentarisierung des Englischen und versucht es auf eine “unausgesetzte Gegenwart” zu reduzieren. Alexis beobachtet, dass eine wesentliche Seite des Stein’schen Stiles die allmaehliche Sinnentleerung eines Wortes oder einer Phrase durch permanente Wiederholung ist. Etwas ganz Aehnliches widerfaehrt den Texten in seinen Gemaelden. Eine Serie Arberten besteht einfach aus der Wiedergabe der Daten eines Monats, entnommen Stein’s Tagebuch. Ordentlich in Worten ausgeschrieben, entrollen sich die Zahlen wie Muster auf einem Stoffballen und lassen die Abfolge von Tagen als pure Einfoermigkeit erscheinen. In anderen Arbeiten zieht sich der Text unter Peitschenschur-Verzierungen dahin.

So untersheidet sich das geschriebene Wort nur um ein Weniges von den kalligraphischen Narben, die Alexis haeufig dem dicken Grund von Farbe und Gips zufuegt.Oder es wird die hoefliche Wendung “I am very sorry not to have been able to see you again” ( Es tut mir sehr leid, dass ich Sie nicht mehr treffen konnte) aus einem Brief der Stein isoliert und auf andere Weise ihres Sinnes entkleidet. Als herkoemmlicher Ausdruck schmueckt diese Phrase ein vornehmes Gespraech in genau der Manier, in der eine Stuckarabeske einen Empfangssalon verziert. Im Zusammenhang des Gemaeldes dient sie weder als Erklaerung noch alls Titel-nicht in der hergebrachten Funktion, die ein Text in einem Kunstwerk erfuellt-, sondern als eines unter mehreren kuenstlerischen Bestandteilen.

Im Ganzen betrachtet, erkundet Alexis mit seinem Gemaelden das Territorium des Unabgeschlossenen, des geheimnisses. Selbst die geste des Farbauftrages auf die Leinwand sucht dieses Moment zu halten : festgehaalten in der Zeit und eingefroren im Raum. Wie in den Werken eines satie oder Debussy, zu denen Alexis naturgemaess grosse Naehe empfindet, wurde der heisspornige Sturm und Drang romantischen Strebens verlassen, um einer feinfuehligen Erkundung der Sensibiltaet willen .
Um Alexis’kuenstlerische Sparsamkeit besser zu verstehen, ist es unerlaesslich, ihn an den rechten Ort und in die rechte Zeit einzuordnen. Er zeigt sich gaenzlich unbeeinflusst von des Gedanken des amerikanischen Minimalismus mit dessen Suche nach dem urspruenglichem Materialbewusstsein in Malerei und Plastik. Die Reduktion in Alexis’arbeiten verursacht, ganz im Gegenteil, keinen Gewinn an Substanz, sondern die eigentuemlich schwemuetige Ahnung eines Verlustes.

Koennte einer der Gruende fuer seine Faszination mit Fertrude Stein beider Status als Fremde in einem anderen Land sein? Sicher, als Europaeer, der zwischen Frankreich und New York reist, fuehlt Alexis die Gravitation der Geschichte und die Last vergangener Groesse.Worte und Bilder schweben am Rande des Abgrundes, beinahe verlassen von den ihrin fast vergessenen Bedeutungen, die moch gefluestert vom auessersten Ende des Gedaechtisses heueberdringen. Alexis eroeffnet weite, nie gesehene Raeume und Tiefen in seinen Tafeln, doch die vorgebliche Leere dieser Raeume wird von unzaehligen Geistern (ghosts & spirits) bewohnt.

—Eleanor Heartney
—Uebertragung: Suzanne Altmann